Referent Suat Yilmaz, Sozialwissenschaftler und Leiter der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunaler Integrationszentren. Foto: NZfT/ceci, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber
Interview mit Suat Yilmaz und Prof. Dr. Roland Roth
Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus geben Suat Yilmaz (Leiter der Landesweiten Koordinierungsstelle der Kommunalen Integrationszentren) und Prof. Dr. Roland Roth (pensionierter Professor für Politikwissenschaft) in einem kleinen Interview einen Einblick zu Partizipation in einer vielfältigen Gesellschaft. Ursprünglich sollten beide Experten am kommenden Montag, 16. März, im Kreishaus Gütersloh zum Thema »Für eine Gesellschaft der Vielfalt – demokratische Prozesse gestalten« referieren. Die Veranstaltung fällt jedoch aus. Angemeldete Teilnehmer wurden durch das Kommunalen Integrationszentrums Kreis Gütersloh bereits informiert. Die Veranstaltung soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.
Welche Herausforderungen sehen Sie derzeit für die Demokratie/für die Demokratiebildung?
Suat Yilmaz: Unsere Demokratie steht derzeit unter einem erheblichen Druck, nicht nur innerhalb von Deutschland, sondern weltweit. Viele Menschen sind verunsichert und vertrauen nicht mehr der politischen Ebene. Insbesondere Jugendliche fühlen sich von Politik nicht verstanden und viele nehmen nicht mehr an den gesellschaftlichen Prozessen teil. Wie binden wir denn junge Menschen in die politischen Debatten ein und sprechen wir wirklich ihre Sprache? Ich glaube, wir müssen durch aufsuchende Demokratiearbeit mehr Jugendliche mobilisieren und sie für unsere demokratische Grundordnung gewinnen. Wir müssen ihnen viel mehr Verantwortung und viel mehr Möglichkeiten bieten, sich zu engagieren. Erst wenn sie sich in unserer Demokratie als Handelnde begreifen, eine Selbstwirksamkeit erleben, wird sich die Bindung in das demokratische System verfestigen. Demokratie wird nicht vererbt, sondern muss in jede Generation eingepflanzt werden.
Wie schätzen Sie das politische Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund ein?
Suat Yilmaz: Durch meine Arbeit habe ich sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund kennengelernt, die sich seit Jahrzehnten für unsere Gesellschaft stark machen. Sie tun das, weil sie Deutschland als ihre Heimat verstehen und deshalb möchten sie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ihren Beitrag leisten. Aber natürlich gibt es auch viele, die sich nicht einbringen oder sogar von der Mehrheitsgesellschaft entkoppelt sind. Übrigens gibt es auch viele Menschen ohne Migrationshintergrund, denen es ähnlich geht. Ich würde mir wünschen, dass wir viel mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte auch in Verwaltung und Politik sehen und zwar nicht nur in untergeordneten Positionen. Wie viele Schulleiter, Kreisdirektoren, Regierungs- oder Polizeipräsidenten mit Migrationshintergrund haben wir in NRW? Leider nicht viele. Eine diverse Gesellschaft muss sich auf allen Ebenen von Politik und Verwaltung sichtbar abbilden, ansonsten nützt all das gesellschaftliche Engagement nichts, es wirkt unglaubwürdig.
Roland Roth: Ein entscheidender Faktor ist die Zeit. Zu Beginn der Zuwanderung stehen andere Herausforderungen im Vordergrund: Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, Ausbildung und zum Wohnungsmarkt. Das Interesse an der Politik der Aufnahmegesellschaft ist entsprechend gering, die politische Partizipation nachrangig. Dies ändert sich in der zweiten und dritten Generation der Menschen mit Migrationshintergrund. Sie engagieren sich dann ähnlich intensiv wie die vergleichbaren ‚biodeutschen‘ Bevölkerungsgruppen, wenn ihre Zugänge relativ barrierefrei sind. Politische Parteien und Parlamente weisen noch immer eine Reihe von Barrieren auf, wie der geringe Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zeigt. Überfällig ist die Öffnung der repräsentativen demokratischen Institutionen für die gesamte Wohnbevölkerung. In Berlin gibt es Stadtteile, in denen nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung wahlberechtigt ist.
Mitgestaltung demokratischer Prozesse an der eigenen Schule – inwieweit werden Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen und in der Ausbildung vorbereitet und unterstützt, dieser Aufgabe mehr Beachtung zu schenken?
Roland Roth: Obwohl demokratisches Lernen in keinem Schulgesetz fehlt, ist es in der Regel kein Thema in der Lehrerausbildung. Hier dominiert Fachwissen und Fachpädagogik. Mit den realen Lernbedingungen in Schulen, die schon zeitlich zu zentralen Lebensorten junger Menschen geworden sind, hat dies meist wenig zu tun. Lehrerinnen und Lehrer werden nicht oder viel zu wenig auf Möglichkeiten und Herausforderungen einer demokratischen Schulkultur vorbereitet.
Welche Vision haben Sie von (politischer) Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2030?
Roland Roth: Der schon lange überholte Deutschenvorbehalt ist endlich aus dem Grundgesetz gestrichen. Vielfalt wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung als beglückend und bereichernd erlebt. Dazu trägt eine kluge Integrationspolitik auf allen Ebenen bei, indem sie Diskriminierungen und Beteiligungsbarrieren abbaut. Gemeinsam mit den Zugewanderten gelingt es, eine deutsche und europäische Migrationspolitik zu entwerfen, die auf internationale Solidaritäten setzt.
Was müsste bis dahin geschehen, damit Ihre Vision wahr wird?
Roland Roth: Ich hoffe sehr auf selbstbewusste Migrantenorganisationen, die sich mehr Gehör verschaffen können. Ohne eine garantierte soziale Grundsicherung für alle wird es allerdings nur schwer gelingen, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für anspruchsvolle Solidaritäten lokal und global abzusichern.
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