Seit Jahrzehnten ächzt die Welt unter den zunehmend dramatischeren Folgen des Klimawandels, noch immer hat die Menschheit die seit Anfang 2020 grassierende Corona-Pandemie nicht überwunden, weltweit sind rechtspopulistische Bewegungen und diktatorische Regierungen auf dem Vormarsch, und nun befinden wir uns gefährlich nahe am Abgrund eines Dritten Weltkrieges, den Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die #Ukraine unter Verweis auf sein Atomwaffen Arsenal nun schon mehrfach angedroht hat.
Wir sind zutiefst empört über den Vernichtungskrieg, den das Putin-Regime mit gnadenloser Gewalt nun schon seit über drei Monaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt, und wir fordern alle unsere Leserinnen und Leser auf, sich energisch diesem Krieg entgegenzustellen und den Opfern dieses Krieges solidarisch zur Seite zu stehen. Unsere Solidarität gilt jedoch nicht nur den Leidtragenden dieses Krieges, sondern auch all jenen mutigen Menschen, die sich in Russland selbst trotz massiver staatlicher Repression gegen diesen Krieg erhoben haben. Es ist diese zivilgesellschaftliche Opposition, die wir als Libertäre mit allen unseren Möglichkeiten unterstützen sollten – auch im Interesse des Friedens.
Im Lärm der auf Hochtouren laufenden Kriegsmaschinerie sind die Stimmen dieser zivilgesellschaftlichen Opposition in Russland etwas in den Hintergrund geraten. Deshalb starten wir unsere neue Sommerausgabe der espero mit dem Beitrag Die beispiellose Unterdrückung der Antikriegs Opposition in Russland von Oksana Mironova und Ben Nadler. Als aktuelles Dokument antiautoritären Aufbegehrens folgt der Streikaufruf des Feministischen Antikriegs Widerstandes (FAS) in Russland zum 1. Mai 2022.
Der unmittelbaren Gegenwart und einem ihrer drängendsten Probleme stellt sich auch Roel van Duijn. Seine Analyse der Verschwörungsmythen, mit denen Corona Leugner, Bestreiter des #Klimawandels, Putin und Trump Verehrer auch hierzulande die Agenda des autoritären Staats verfechten, liest sich wie die unmittelbare Vorgeschichte zum menschenverachtenden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Die Frage von Krieg und Frieden steht als verbindende Klammer auch im Hintergrund der nächsten vier Beiträge. Sie bilden unseren diesmaligen Themenschwerpunkt zur Beziehung zwischen Anarchismus und Demokratie: Colin Ward blickt aus ganz grundsätzlicher Perspektive auf das dynamische Spannungsverhältnis, in dem sich staatliche Machtansprüche und soziale Teilhabe der Zivilgesellschaft unweigerlich gegenüberstehen. Als anarchistische Alternative zur repräsentativen Demokratie schlägt Amedeo Bertolo eine grundlegende Neukonstruktion des politischen Raumes vor, basierend auf direktdemokratischen, föderalen und konföderalen Strukturen. Thom Holterman wirft die Frage nach einem anarchistischen Verfassungsrecht auf und fordert die Übertragung zentralstaatlicher Aufgaben auf dezentralisierte Rechtskreise. Am Beispiel eines Orchesters ohne Dirigenten entfaltet Jochen Schmück schließlich die Prinzipien kooperativer Selbstorganisation und betrieblicher Demokratie als praktikables Gegenmodell zur Top Down Kommunikation in autoritären Organisationsformen.
Aber auch der historische Anarchismus bietet bei aller Zeitgebundenheit in seinen theoretischen Entwürfen und praktischen Erfahrungen einen Wissensschatz, der uns heutigen Libertären von Nutzen und Wert sein kann.
Olaf Briese führt uns in seinem Beitrag zurück bis zur Revolution von 1848, geht der Biographie des Frühanarchisten Sigmund Engländer nach und öffnet unseren Blick für die in Teilen überraschende Aktualität der im antiautoritären Lager damals geführten Debatten.
Auch moderne Konzepte experimenteller Verwirklichung beziehen sich in vielem auf historische Persönlichkeiten wie Gustav Landauer und Martin Buber. Dem Leben, der Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft dieser beiden Vordenker gelebter Anarchie geht Siegbert Wolf nach.
Im Mittelpunkt des Beitrages von Tom Goyens steht Robert Bek-gran und dessen spezifisch libertärer Ansatz antifaschistischer Aktion in den USA der 1930er und 1940er Jahre. Die Notwendigkeit der Selbstbehauptung gegenüber autoritären Strömungen von rechts und von links eint Bek-grans Erfahrungswelt mit der unseren.
Wie sich aus zeitgebundener und milieugebundener Gesellschaftskritik auch heute noch inspirierende Veränderungsoptionen ableiten lassen, arbeitet Rolf Raasch beispielhaft am mexikanischen Werk des anarchistischen Schriftstellers B. Traven heraus.
Heiko Koch bietet uns einen erfrischend lebensnahen Bericht über die frühen 1980er Jahre und die damalige Jugendrevolte in Bochum. Er schildert nicht nur, wie sich im kollektiven Aufbruch Ermöglichungsräume und Lernbereiche auftun können, er weckt auch Neugierde auf weitere libertäre »Lokalgeschichten«.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Schrecken der Gegenwart uns paralysieren. Auch in finsteren Zeiten bleibt es unsere Aufgabe, aktiv nach Möglichkeiten libertärer Umgestaltung und Neugestaltung zu suchen. Genau das tut Bert Papenfuß in seiner lyrisch-literarischen Annäherung an Han Ryners Sozialutopie Les Pacifiques.
Es schließen sich drei Rezensionen von Büchern an, die wir unseren Leser:innen ans Herz legen wollen. Auch sie stehen jede auf ihre Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.
Wieder möchten wir uns bei unseren Autor:innen und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.