Veränderungen von Hirnarealen bei schwerer Depression. Abbildung modifiziert nach Page CE et al. »Mol Psychiatry«, May 31st 2024, DOI 10.1038/s41380 024 02625 2, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber
Neuroplastizität: Wie unser Gehirn lernt, zu lernen und sich selbst zu reparieren
Düsseldorf, 16. September 2024
Das #Gehirn zählt zu den komplexesten Organen des menschlichen Körpers. Viele das Gehirn betreffende Vorgänge und Zusammenhänge sowie deren Auswirkungen sind trotz intensiver Forschung noch immer nicht abschließend geklärt. Rund 100 Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns kommunizieren über etwa 100 Billionen Verknüpfungen (Synapsen) miteinander und ermöglichen es uns, unsere Sinne zu nutzen, Eindrücke miteinander zu verbinden, Emotionen zu bilden oder sich an Veränderungen anzupassen. Dafür knüpfen die Nervenzellen unseres Gehirns ständig neue synaptische Verbindungen, bauen ungenutzte ab oder verstärken viele der genutzten Verbindungen. Diese Fähigkeit unseres Gehirns zur Veränderung und Neubildung neuronaler Verbindungen wird auch als Neuroplastizität oder neuronale Plastizität bezeichnet.
Lange Zeit ging man davon aus, dass die neuronalen Verbindungen in unserem Gehirn statisch sind und sich ab einer bestimmten Entwicklungsphase nicht mehr wesentlich verändern. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass unser Gehirn bis ins hohe Alter anpassungsfähig und veränderungsfähig bleibt, wobei die Neuroplastizität teils stark vom Alter abhängig ist. So entwickeln sich einige Prozesse ausschließlich in den ersten Lebensjahren, manche Bereiche des Gehirns verlangsamen ihre Umbaufähigkeit mit zunehmendem Alter oder durch bestimmte (neurodegenerative) Erkrankungen drastisch.
Die #Neuroplastizität ist aber nicht nur Basis dafür, dass wir Neues erlernen oder bestehende Fähigkeiten, wie bspw. das Spielen eines Instruments oder bestimmte Bewegungsabläufe, kontinuierlich verbessern können, auch bei Schädigungen des Gehirns spielt die Neuroplastizität eine entscheidende Rolle. So können, zum Beispiel durch einen #Schlaganfall, verloren gegangene Fähigkeiten dank der Neuroplastizität ganz oder zumindest teilweise wiedererlangt werden. Auch der Verlust eines Sinnes kann durch eine stärkere Vernetzung anderer Sinne bestmöglich kompensiert werden.
Nicht zu verwechseln ist die neuronale Plastizität mit der #Regenerationsfähigkeit von neuronalem Gewebe. Die Neuroplastizität beschreibt lediglich die Fähigkeit des Gehirns zum Umbau und zur Neuordnung bestehender synaptischer Verbindungen. Einmal zerstörte Synapsen und Nervenzellen sind von diesem Umbau ausgeschlossen. Synaptische Plastizität: Lernen ist Veränderung von Verhalten auf Basis von Erfahrungen Grundlage für das Lernen und neuronale Entwicklungen ist dabei die synaptische Plastizität, welche die Anpassung oder Neuordnung von Synapsen beschreibt. Wie sich die Synapsen im Gehirn verschalten, ist die Folge von Erfahrungen. Um Reize von einer Nervenzelle zu einer anderen weiterzugeben, werden verschiedene biochemische Stoffe (Botenstoffe) von den Synapsen ausgeschüttet, sogenannte #Neurotransmitter. Zu diesen zählen unter anderem Noradrenalin, #Dopamin oder #Serotonin.
Einer der wahrscheinlich wichtigsten Botenstoffe für die Neuroplastizität ist der Brain derived neurotrophic factor (BDNF). BDNF wird eine wesentliche Rolle bei der Steuerung der synaptischen Plastizität zugeschrieben. Er spielt eine zentrale Rolle in verschiedenen Regionen des Gehirns, beispielsweise im Hippocampus. Diese Region hat eine wichtige Funktion für das Lernen und die Gedächtnisbildung.
#BDNF scheint auch einen schützenden Effekt auf das Nervensystem bei Stress zu haben. So konnten neuere Studien nachweisen, dass bei gesunden Menschen die Konzentration unter kurzfristiger Stresseinwirkung steigt, bei chronischer Stressbelastung sinkt der BDNF Spiegel hingegen ab. Der Wachstumsfaktor wird auch als »Wachstumshormon im Gehirn« bezeichnet, da BDNF neben der Vernetzung/Kommunikation der Synapsen untereinander, auch Wachstum und Entstehung neuer Neuronen und Synapsen fördert. Bei einem niedrigen BDNF Spiegel ist also die Reizübertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle und somit die Neuroplastizität vermindert.
Neuroplastizität und Depression – Lösen von alten Denkmustern
Auch bei Depression scheint die Neuroplastizität und damit BDNF eine Rolle zu spielen. Als Hauptursache einer Depression stand lange die Monoaminmangel Hypothese im Fokus, also die Annahme, dass es ein aus der Balance geratenes Gleichgewicht von Neurotransmittern im Gehirn gebe und der Mangel bestimmter Botenstoffe wie Serotonin und Noradrenalin im Gehirn ursächlich für eine Depression sei. Aber Depressionen sind äußerst komplex und mittlerweile ist klar, dass diese #Hypothese in ihrer Einfachheit nicht ausreichend ist. Inzwischen geht man davon aus, dass auch eine verringerte Neuroplastizität bei der Depression eine Rolle spielt. Man hat herausgefunden, dass es bei Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, weniger Verknüpfungen im Gehirn gibt als bei gesunden Menschen. Mittlerweile basieren auch Therapieansätze für Depression auf der Neuroplastizitätshypothese.
Wichtige Hirnregionen für die Neuroplastizität und ihre Bedeutung bei schwerer Depression
Auch wenn die Entstehung einer Depression noch nicht abschließend geklärt ist und neben Funktionsstörungen des Gehirns auch weitere Faktoren, wie etwa individuelle Lebensumstände, Entzündungsprozesse, genetische Faktoren und körperliche Erkrankungen, dabei eine Rolle spielen, gibt es doch wichtige Erkenntnisse über die Prozesse und Funktionen einzelner Hirnareale sowie deren Verbindungen zueinander, die bei schwerer #Depression entscheidend sind.
Zu den wichtigsten Hirnregionen, die für die Entstehung einer Depression mitverantwortlich sind, gehören der präfrontale Kortex, der Hippocampus, der Nucleus accumbens und die Amygdala. Jede dieser Hirnregionen ist durch Bahnen miteinander, aber auch mit weiteren Hirnarealen verbunden, über welche Reize und Informationen weitergeleitet werden.
Neuroplastizitätshypothese im Fokus der Forschung
Die Rolle der Neuroplastizität wird nicht nur im Rahmen von depressiven Erkrankungen, sondern auch bei anderen neurologischen Erkrankungen erforscht. So können gezielte Übungen oder auch Stimulationen bestimmter Hirnareale dabei helfen, den Aufbau neuer Verbindungen im Gehirn zu fördern, um so beispielsweise motorische Fähigkeiten wiederzuerlangen oder zu verbessern. Bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung) oder neurodegenerativer Erkrankungen, wie Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson steht die Neuroplastizität daher ebenfalls im Zentrum der Forschung.
1. https://www.imd berlin.de/fileadmin/user_upload/Diag_Info/302_BDNF_Stressbelastung_und_Resilienz.pdf, abgerufen am 30. Mai 2024
2. Page CE et al. »Mol Psychiatry, 2024, DOI 10.1038/s41380 024 02625 2. Online ahead of print.
3. https://natuerlich.thieme.de/aktuelles/aus-der-forschung/detail/neuroprothese-aktiviert-neueverbindungen-im-gehirn-574, abgerufen am 28. Mai 2024
4. https://alzheimer-science.com/news/transkranielle-pulsstimulation/tps-auch-bei-aufmerksamkeitsdefizitsyndrom-adhs-einsetzbar, abgerufen am 28. Mai 2024